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  • Eine weitaus ungewöhnlichere Form der Körpermodifikation der skandinavischen Wikingerzeit: Bei etwa 130 Männern – viele von ihnen von der schwedischen Insel Gotland – waren horizontale Riefen in die Schneidezähne gefeilt.

Körperkult bei den Wikingern

Kein Fußballer ohne Tätowierung, kein Punk ohne Piercing. Körpermodifikationen sind aus vielen Kulturen bekannt. Neuere Forschungen zeigen, dass es vergleichbare Praktiken auch bei den Wikingern gab. Unser Museumsleiter Dr. Matthias Toplak berichtet über Tattoos, Turmschädel und gefeilte Zähne…

Das populäre, medial vermittelte Bild – wie zum Beispiel in der Serie VIKINGS – zeigt zumeist einen wilden Wikingerkrieger mit langen Haaren, Bart und oftmals auch mit kunstvollen Tätowierungen, die wie selbstverständlich als elementare Aspekte eines nordischen Schönheitsideales wahrgenommen werden. Aufgrund der Neigung der Wikinger, selbst Alltagsgegenstände wie Löffel oder Essschalen mit elaborierten Verzierungen zu schmücken, und der enormen Bedeutung, welche die verschiedenen Kunststile der skandinavischen Wikingerzeit offensichtlich für die damalige Gesellschaft gehabt haben, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, dass die wilden Nordmänner auch ihre Körper mit aufwändigen Mustern tätowierten. Konkrete Belege für diese Annahme sind jedoch kaum zu finden.

Tätowierungen lassen sich in Europa spätestens seit dem Neolithikum vor über 5000 Jahren nachweisen, berühmtester und – zusammen mit zwei neuen Funden aus Oberägypten – ältester Beleg ist die Gletschermumie ‚Ötzi‘ vom Hauslabjoch, Südtirol. In der klassischen Antike waren Tätowierungen als Markierungen von Sklaven oder Kriminellen bei Römern und Griechen üblich- Freiwillige Tätowierungen als ästhetisch empfundener Körperschmuck – wie einige ausgezeichnet erhaltene ‚Eismumien‘ aus Kammergräbern des 5. Jh. v. Chr. im Altai-Gebirge für die skythische Kultur belegen – wurden von Römern und Griechen als barbarisch und unzivilisiert empfunden.

Künstlerische Rekonstruktion der Bestattung einer Frau mit künstlich deformiertem Schädel auf dem Gräberfeld von Havor auf Gotland (Bildausschnitt).

Die vermutlich extremste Form von Körpermodifikationen in der Wikingerzeit ist über ein Jahrhundert weitestgehend ignoriert worden. Auf drei weit voneinander entfernt liegenden Gräberfeldern auf der schwedischen Insel Gotland waren drei erwachsene Frauen mit typisch gotländischer Tracht bestattet worden, deren Köpfe zu sog. ‚Turmschädeln‘ deformiert worden waren. Dabei wurden zumeist durch eine zirkulär um den Kopf umlaufende Bandagierung die elastischen Schädelknochen von kleinen Kindern in den ersten 1–2 Lebensjahren so deformiert, dass der Kopf eine langgezogene, eiförmige Gestalt erhielt; ein sogenannter Turmschädel. Trotz der Lage zwischen anderen wikingerzeitlichen Bestattungen wurden die drei Frauen von Gotland aufgrund ihrer deformierten Schädel in das 6. Jh. datiert und als merowingerzeitliche Langobardinnen interpretiert – entsprechend der gängigen Forschungsmeinung, wonach die Sitte der Turmschädel in Europa mit dem Übergang von Spätantike zum Frühmittelalter endete. Eine genauere Untersuchung dieser Gräber und der Trachtbeigaben – bei zwei Bestattungen bestehend aus reichen Fibel- und Schmuckgarnituren – und dem Kontext der Gräberfelder zeigt jedoch eindeutig, dass alle drei Gräber in der zweiten Hälfte des 11. Jh. angelegt worden sein müssen.

Zudem lassen sich mehrere Fälle von künstlich deformierten Schädeln aus dem Zeitraum um das 10./11. Jh. aus Ost- und Südosteuropa nachweisen und auch aus dem mittelasiatischen Raum – Choresmien südlich des Aral-Sees – ist die Sitte der künstlichen Schädeldeformation aus den literarisch-geografischen Werken mehrerer arabischer Reisender aus dem 10. und 12. Jh. bekannt. Zumindest eine der drei Frauen mit künstlich deformiertem Schädel stammte neuesten DNA-Untersuchungen zufolge von Gotland. Wie diese ansonsten in Skandinavien völlig unbekannte Sitte nach Gotland gelangte, ist noch völlig ungeklärt. Vielleicht verbrachten die drei Frauen die ersten Lebensjahre als Kinder gotländischer Händler in Südosteuropa oder wurden dort sogar geboren. Enge Handelsverbindungen zwischen Skandinavien und besonders Gotland in die osteuropäischen Gebiete und bis hinunter in das Schwarze und das Kaspische Meer sind für die Wikingerzeit durch archäologische Funde wie auch historische Quellen gut belegt.

Veränderungen am Körper zur Inszenierung oder Präsentation einer bestimmten kulturellen, sozialen oder auch religiösen Identität bzw. schlicht als ästhetisch empfundener Körperschmuck waren somit vereinzelt auch in der Wikingerzeit üblich. Jedoch ergeben die sukzessive ans Licht kommenden archäologischen Befunde ein ganz anderes Bild als zu erwarten wäre. Die medial schon fest mit der populären Vorstellung des wilden Wikingerkriegers assoziierten Tätowierungen können zwar als wahrscheinlich angenommen, aber nicht zweifelsfrei belegt werden. Stattdessen lassen sich mit Zahnfeilungen und Schädeldeformationen zwei unerwartete Formen von Körpermodifikationen nachweisen, die neues Licht auf das altbekannte und vertraute Bild der Wikingerzeit werfen.

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